21.10.2016, 19:30 Uhr
Orangerie, Schlossgarten, Erlangen
Lavinia Greenlaw, London, wird aus ihren Werken „Night Photograph“, „A World Where News Travelled Slowly“, „Minsk“ und „The Casual Perfect“ lesen.
Die Lesung findet im Rahmen des Symposiums „Narrative, Cognition & Science Lab“ statt.
„Ich war schon immer an jenem Moment interessiert, an dem wir beginnen, Sinn in Dingen zu finden“:
Eine kurze Einführung in das Werk Lavinia Greenlaws
Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren zählt Lavinia Greenlaw zu den bedeutendsten poetischen Stimmen der britischen Gegenwartsliteratur. Vielen Kritikern gilt sie als die prominenteste Verfasserin von „Wissenschaftsdichtung“, da ihre Texte immer wieder Berührungspunkte mit der Biologie, der Chemie und vor allem auch der Physik aufweisen. Diese naturwissenschaftliche Ausrichtung ihres Schreibens ist ein wesenhaftes, keinesfalls aber ausschließliches Erkennungsmerkmal ihres Werkes. Die Unverwechselbarkeit ihrer ‚Stimme‘, die hohe Komplexität ihrer Dichtung und die Vielzahl der von ihr behandelten Themen, deren Spektrum von der Naturwissenschaft, der Kommunikationstechnik, dem Alltagsleben, der Liebe, der kreativen Rezeption Chaucers bis hin zur poetisch-meditativen Auslotung des Verhältnisses von Identität und Erinnerung anlässlich der Alzheimer-Erkrankung ihres Vaters reicht (vgl. ihren wunderbaren Film The Sea is an Edge and an Ending (2016)), lassen ihrem Oeuvre gegenüber naturgemäß keinen monodimensionalen Kategorisierungsversuch zu, und Greenlaw selbst beteuert auch energisch immer wieder aufs Neue, dass sie nicht auf eine einzelne Facette des lyrischen Kosmos reduziert werden möchte. Weder will sie in Bezug auf ihre Dichtung vom Feminismus vereinnahmt werden („I’m no ‚woman writer'“; vgl. Costamberys-Kempczynsi), noch toleriert sie eine ausschließliche Festlegung auf naturwissenschaftliche Thematik, wie dies nach der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbandes Night Photograph (1993) immer wieder geschah:
„The main difficulty with Night Photograph has been the ‚poetry about science‘ tag. I grew up in a family of scientists and have long been fascinated by time and space, so this is a natural source of metaphor for me. I only became conscious of how much science there is in the book when it was pointed out. Since then, I have resisted science like hell.“ (zit. nach Kendall)
Zwar wurde Greenlaw vor allem zu Beginn ihrer Karriere bereits mit der Gruppe der New Generation Poets assoziiert, aus der so bedeutende Dichter wie Simon Armitage, Michael Hofmann und David Dabydeen sowie renommierte Dichterinnen wie Carol Ann Duffy, Kathleen Jamie und Pauline Stainer hervorgegangen sind, aber wichtiger als jegliche Gruppenzugehörigkeit ist der individuelle, unverwechselbare Ton, der ihre Gedichtbände wie Minsk (2003) oder The Casual Perfect (2011) auszeichnet. Für Lavinia Greenlaw kommt das Dichten einem lebenslangen Exerzitium gleich; bei Begegnungen, auf Spaziergängen und auf ihren Reisen pflegt sie, Beobachtungen und Gesprächsfetzen zu notieren (vgl. Bradbury) und somit ‚Keimzellen‘ für spätere lyrische Texte anzulegen; ihre Gedichte sind keine mentalen ‚Fertigprodukte‘ für den konsumentenfreundlichen poetischen Sofortverzehr, vielmehr reifen die Eindrücke – wie bei der von ihr so sehr verehrten Elizabeth Bishop (vgl. Mansfield) – über lange Zeit, manchmal über Jahre hinweg, in Ruhe heran und bilden ein hochkomplexes Zeichensystem, das einerseits an ein Palimpsest erinnert, andererseits aber auch Assoziationen zur Sedimentbildung in der Geologie weckt, wie sie selbst in Interviews bemerkt (vgl. Kendall). Auch nach der Niederschrift der Gedichttexte legt Greenlaw großen Wert auf die Phase des Überarbeitens und genauen Redigierens, bis der Text einen Grad von Autonomie erhält, der nun nur doch der Ergänzung durch den Sinnstiftungsprozess der Rezipienten bedarf (vgl. Bradbury). Die Beteiligung des Rezipienten an der Interpretation ist ihr wichtig, der performative Charakter ihrer Dichtung soll zu einer aktiven Rezeption anleiten, wie sie erst vor kurzem durch ihr preisgekröntes Werk Audio Obscura (2011) bewies, das mit dem Ted-Hughes-Preis ausgezeichnet wurde.
Trotz der Individualität ihres Schreibens, trotz der Komplexität und Verdichtung von konkreten Erfahrungen zu abstrakten, komprimierten poetischen Formen und trotz der Vielseitigkeit der Themen erkennt ein aufmerksamer Leser immer wieder Leitideen und dominante Motive, die Greenlaws Dichtung einen zutiefst ‚hermeneutischen‘ Charakter verleihen. ‚Sehen‘, ‚Erkennen‘ und ‚Verkennen‘ sowie alle Facetten von ‚Sinnstiftungsprozessen‘ sind die thematischen Gravitationszentren ihres poetischen Universums, und diese Fokussierung auf den Versuch, aus genereller Wahrnehmung Bedeutung zu generieren (vgl. auch Mansfield), erklärt wohl auch ihr starkes Interesse an allen Gegenständen der Naturwissenschaft und Technik, durch das sich vor allem die frühen Gedichtbände Night Photograph (1993) und A World Where News Travelled Slowly (1997) auszeichnen. Nicht ohne Grund erhielt Greenlaw ein ‚Drei-Jahres-Stipendium‘ von der ‚National Endowment for Science, Technology and the Arts‘ und war überdies auch als ‚Resident Poet‘ im ‚Science Museum‘ London tätig. Die vermeintlich unüberwindbare Distanz zwischen Naturwissenschaft und Dichtung wird von ihr mit Eleganz, sprachlicher Brillanz und hoher Konzentration überbrückt, ein Verfahren, das sie selbst mit der konzentrierten Kunst des Jonglierens vergleicht (vgl. Kendall). Für einige Momente lassen die Parallelwelten erstaunliche Gemeinsamkeiten erkennen, werden als Phänomene einer tief verborgenen Strukturähnlichkeit erkennbar, die den beiden vielzitierten, vermeintlich disparaten Wissenskulturen im Sinne eines metaphysischen ‚conceits‘ eine gemeinsame geistige Gestalt verleihen. Greenlaws gelegentlich asymptotisch wirkende Annäherung an die ‚Lebenswirklichkeit‘ rekurriert dabei ganz bewusst auf die eigene ‚Bildersprache‘, auf die vielen unausgesprochenen Metaphern, Analogien und unbewussten Assoziationen sowie Konnotationen, mit denen ‚man‘ versucht, einen ‚Gegenstand‘, sei es ein historisches Ereignis, eine Landschaft oder die Einsteinsche Formel e = m x c2, zu verstehen. Wie der Naturwissenschaftler, der die Heisenbergsche Unschärferelation von einem Unbehagen zu einer Chance für neue Entdeckungen umwandelt, ist Greenlaw von der Erfahrung fasziniert, dass wir das Alltagsleben und die naturwissenschaftlichen Gegenstände eigentlich niemals vollkommen, sondern nur fragmentarisch wahrzunehmen vermögen, ein Gedanke, der vielleicht auch den Titel ihrer Lesung „Unstable Regions“ zu erklären vermag. Ihre eigene stark ausgeprägte Kurzsichtigkeit, die sie seit Kindheitstagen begleitet und die sie paradoxerweise neben „Migräne, Wetter, Geistesabwesenheit, Licht, das Meer, den Himmel, die Arktis, die Photographie, die Architektur“ (vgl. Stoddard) als starke poetische Inspiration wertet, motiviert sie immer wieder, den psychologischen Anteil an allen Prozessen der Sinnfindung zu betonen. Der dichterische Versuch, Sinn zu generieren, ist somit kein – einem strengen Ritual und einem strikten Regelwerk folgender – Prozess, sondern er ähnelt einem zutiefst essayistischen Verfahren, das der „Utopie des Essayismus“ in Robert Musils naturwissenschaftlich geprägtem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930) wesensverwandt erscheint. In den Grenzbereichen des Sagbaren lotet Greenlaw die Leistungsfähigkeit der Sprache aus. Ganz ähnlich wie Werner Heisenberg, Niels Bohr oder Paul Dirac ein Unbehagen verspürten, wenn sie die metasprachlichen Verhältnisse des atomaren Mikrokosmos in die Bildersprache des Alltags überführen sollten, bleibt Greenlaw skeptisch dem unbekümmerten mot juste gegenüber, den Klischees, und Stereotypen, die der ’subatomaren Ontologie menschlicher Wirklichkeit‘ niemals gerecht zu werden vermögen. Greenlaw maßt sich nicht an, Aussagen über Gebiete zu treffen, in denen sie kein Expertentum beanspruchen kann; als gleichsam mild marginalisiertes Mitglied einer außerordentlich naturwissenschaftlich interessierten Familie („I was the village idiot of my family“) lernte sie die Grenzen der eigenen naturwissenschaftlichen Kompetenz durchaus einzuschätzen (vgl. Brace), und sie bekennt in Interviews freimütig, dass sie zu Themen wie etwa der Chaostheorie, die zu großen Teilen aus numerischen und mathematischen Überlegungen bestehe, nicht wirklich Stellung nehmen könne, da ihr die ‚höhere Mathematik‘ dazu fehle. An dem ’strengen‘ Gebiet naturwissenschaftlicher Forschung und mathematischer Logik fasziniert sie zuallererst das Erlebnis des Neuen, des Schönen, die Erfahrung der Grenzüberschreitung, die in ihrer Dichtung einen zutiefst epiphanen Wesenszug offenbart: der erste Blick durch das Teleskop, die erste Entdeckung der Wirkung von Radium, Ehrfurcht und Demut vor der Grenzenlosigkeit des Kosmos, die grenzenlose Erscheinungsvielfalt des Lichtes in der Natur, das grenzenlose Weiß der Arktis. Aber sie legt auch die dialektischen Beziehungen zwischen Schönheit und Gefahr offen, wenn sie auf die zerstörerischen Wirkungen von Technik und Naturwissenschaft aufmerksam macht (vgl. etwa das Gedicht „Linear, Parallel, Constant“ aus dem Band Night Photograph).
Neugier, Staunen, Epiphanie sowie die Paradoxie des ‚okkasionell Perfekten‘ interessieren sie und verleihen ihrer Dichtung, aber auch den zahlreichen narrativen Werken wie etwa Mary George of Allnorthover (2001), An Irresponsible Age (2006) oder den nichtfiktionalen Werken wie The Importance of Music to Girls (2007), jene spannungsreiche Aura aus Nähe und Distanz, für die sie schon bis jetzt mit zahlreichen Preisen, darunter den ‚Eric Gregory Award‘ (1990), den ‚Arts Council Writers‘ Award‘ (1995) und den französischen ‚Prix du Premier Roman‘, ausgezeichnet wurde.
Rudolf Freiburg
Quellen:
Brace, Marianne. “Lavinia Greenlaw: Testament of middle youth”. The Telegraph, 6 Janary 2006. Web: http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/books/features/lavinia-greenlaw-testament-of-middle-youth-521740.html Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Bradbury, Lorna. “A Writer’s life: Lavinia Greenlaw”. The Telegraph, 19 November 2003. Web: http://www.telegraph.co.uk/culture/books/3607141/A-writers-life-Lavinia-Greenlaw.html Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Clark, Alex. “‘I was the only punk in the village’ – Interview: Lavinia Greenlaw”. The Guardian. 12 August 2007. Web: https://www.theguardian.com/books/2007/aug/12/fiction.features Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Costamberys-Kempczynsi, Raphael. „‚The World Is Round‘: Mystification and the Poetry of Lavinia Greenlaw“. EREA: Revue Electronique d’Etudes sur le Monde Anglophone, vol. 6, no. 1, 2008. [PDF AVAILABLE]
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Kendall, Tim. “Interview with Lavinia Greenlaw”. Thumbscrew, no. 8, Summer 1997. Web: http://www.poetrymagazines.org.uk/magazine/record.asp?id=1038# Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Mansfield, Susan. “Interview: Lavinia Greenlaw, poet and novelist”. The Scotsman. 10 March 2012. Web: http://www.scotsman.com/lifestyle/culture/books/interview-lavinia-greenlaw-poet-and-novelist-1-2165128 Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Runcie, Charlotte. “Something borrowed, something blue”. The Telegraph, 23 February 2014. Web: http://www.telegraph.co.uk/culture/books/authorinterviews/10653510/Something-borrowed-something-blue.html Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Sampson, Fiona. “A Double Sorrow review – ‘Shadowed by the mystery of real poetry’”. The Guardian, 14 March 2014. Web: https://www.theguardian.com/books/2014/mar/14/double-sorrow-review-real-poetry Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Samson, Polly. “Noises on. Review: The Importance of Music to Girls by Lavinia Greenlaw”. The Guardian, 1 September 2007. Web: https://www.theguardian.com/books/2007/sep/01/featuresreviews.guardianreview10 Accessed: 21.09.2016 [PDF AVAILABLE]
Stoddard, Rob. “‘I don’t believe in rules or steps’: An Interview with Lavinia Greenlaw”. Pine Hills Review, 13 April 2016. Web: http://pinehillsreview.strose.edu/laviniagreenlawqa/ [PDF AVAILABLE]